Filmplakat: Nachlass.

FBW-Pressetext

Am Anfang steht ein Haus, das aufgehört hat, ein Zuhause zu sein. Halbgefüllte Kisten mit allerlei Kram in der Garage, Bilderalben, die vergilbte Fotos zeigen, Schränke voller Staub. Und an den Wänden, an denen Tapeten und Rauputz mehr schlecht als recht haften, sieht man die Projektionen der Vergangenheit: bewegte Bilder von spielenden Kindern, Ausflüge in die Natur, gemeinsame Erinnerungen. Auf der Tonebene wird ein Brief verlesen, der die scheinbar heiteren Erinnerungen schnell in ein anderes Licht rückt. Es ist der Brief einer Ehefrau an ihren Mann, nach seinem Tod geöffnet von den Angehörigen, auf seinen eigenen Wunsch. Der Brief offenbart einen tiefen Schmerz der Frau, eine Anklage, eine Beschwerde, eine Beichte – und so vieles mehr, was zwischen den Zeilen steckt. Durch die lang stehenden Einstellungen der Kamera, die den schwebenden Zwischenzustand des Hauses zwischen Bewohnen und Entrümpeln festhalten, werden auch die Zuschauenden Teil des Interieurs in Anika Danielle Wagners Kurzdokumentarfilm NACHLASS. Die auch durch das klug gesetzte halbdämmerige Licht entstehende gedrückte Stimmung wird durch die Tonebene, auf der der Brief der Ehefrau an ihren Mann verlesen wird, noch verdeutlicht. Nicht alles wird erklärt in der Beziehung zwischen den Beiden, vieles bleibt nebulös und ein Geheimnis. Doch genau damit kommt Wagners Film seinem Thema auf kluge und sensibel-einfühlsame Weise nahe. NACHLASS. ist ein gelungener und in seiner Gestaltung eindrucksvoller Film über die Komplexität von Beziehungen und die Ambivalenz von Erinnerungen.
Prädikat wertvoll

Filminfos

Gattung:Dokumentarfilm; Kurzfilm
Regie:Anika Danielle Wagner
Drehbuch:Anika Danielle Wagner
Kamera:Anika Danielle Wagner
Schnitt:Anika Danielle Wagner
Musik:Anika Danielle Wagner
Länge:6 Minuten
Verleih:Kurzfilm Agentur Hamburg
Produktion: Hochschule für Gestaltung Offenbach
Förderer:Hochschule für Gestaltung Offenbach

Jury-Begründung

Prädikat wertvoll

Der sechsminütigen Kurzdokumentarfilm NACHLASS. von Anika Danielle Wagner hat der Jury gut gefallen. Dies beginnt mit der filmischen Form: Man erlebt eine Wohnung in Auflösung, wohl nach einem Todesfall. Aus dem Off wird ein dabei gefundener Brief aus dem Off vorgelesen. Er stammt von 1965 und ist an den Verstorbenen als Ehemann gerichtet. Geschrieben von seiner Ehefrau. Der Brief ist ein intensives Dokument einer Ehe der damaligen Zeit und ein sehr persönliches Dokument, was den Inhalt intensiv und wertvoll macht – er analysiert den Zustand der ökonomischen und gesellschaftliche Abhängigkeit der Ehefrau von ihrem Ehemann, gleichzeitig erzählt er von einem Leidensweg aus der Sicht einer (aus Eigenerwartung oder gesellschaftlicher Anforderung heraus) liebenden Frau: da spielen Treuebruch und ein uneheliches Kind einer Rolle, aber auch psychische Erkrankungen. Sprachlich ist dieser Brief in einer direkten, auffällig modernen Sprache verfasst, was ihn zeitlich an unsere Gegenwart heranrückt. Das alles macht NACHLASS. auch für ein Publikum heute universell und zeitgebunden zugleich.
Die Jury lobt die filmische Form mit ihren guten Einstellungen für die halb ausgeräumten Innenräumen, die als Spiegel der Vergangenheit dienen. Wunderbar auch die Idee, auf die jetzt leeren Wände Schwarzweiß-Filme der Familie aus der im Brief erzählten Zeit zu projizieren. Dabei ist spürbar gar nicht der Anspruch, als Zuschauer alles analytisch und koordiniert aufnehmen zu müssen. Vielmehr ist NACHLASS. ein nicht überladenes Assoziationsfeld, das zur (Selbst-) Reflexion anregt – über Familie, Familienpolitik und Partnerschaft.
Einige Dinge empfand die Jury aber als weniger gut gelöst: Es beginnt mit dem doch ein bisschen zu kurz präsentierten und grafisch schwierigen Einführungstext, der die Ausgangslage (Brief, Ehe, etc…) erklärt, aber sowohl schwer lesbar als auch generell ein wenig zu kompliziert erschien, um alle wichtigen Informationen direkt zu erfassen.
Dieses Problem setzt sich für die Jury mit der Tonspur fort, auf der der Brief vorgelesen wird: Nicht immer erscheint der Text gut verständlich gesprochen bzw. gelesen. Gerade in Bezug auf die genauen Personenkonstellationen oder wichtige Kernmomente, die im Brief aufgegriffen werden, wird hier der Zugang zur Rezeption bedauerlicherweise erschwert.
In Abwägung aller aufgeführten Argumente und im Anschluss an eine sehr spannende Diskussion verleiht die Jury gerne das Prädikat WERTVOLL.